Wer chronisch krank ist, kennt es: Die Suche nach Linderung wird mit der Zeit nicht nur mühsam, sondern auch einsam. Viele von uns haben unzählige Arzttermine hinter sich, unklare Diagnosen, durchwachsene Therapien – und den Satz „Da kann man leider nichts machen“ öfter gehört als einem lieb ist.
Und genau hier tauchen sie auf – bei mir verstärkt in der letzten Woche, und das nicht nur auf Facebook, sondern sogar auf LinkedIn: die selbsternannten Heiler, „Schamanen“, spirituellen Begleiter oder „Bewusstseins-Coaches“, die scheinbar einfache Antworten auf komplexe Krankheitsbilder bieten. Besonders in Kommentarspalten, Foren oder per Direktnachricht auf Social Media verbreiten sie ihre vermeintlich heilenden Erkenntnisse – oft ungefragt, oft mit missionarischem Eifer. Und meist mit der unausgesprochenen Botschaft: Wenn du weiter leidest, hast du es nicht richtig verstanden – oder einfach noch nicht genug an dir gearbeitet.
Was zunächst sanft-spirituell klingt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen oft als manipulativ und gefährlich. Denn hinter der esoterischen Verpackung steckt ein ganzes Repertoire an rhetorischen Strategien, das nicht zur Heilung beiträgt, sondern uns Betroffene unter Druck setzt, Schuldgefühle hervorrufen will und gezielt an der Wissenschaft vorbei argumentiert.
In diesem Beitrag zeige ich, welche rhetorischen Tricks besonders häufig eingesetzt werden – und wie man sich davor schützen kann. Denn Aufklärung ist kein Widerstand. Sie ist Selbstfürsorge.
Rhetorische Tricks der Esoterik-Heiler (und wie man sie erkennt)
Sie kommen freundlich daher. Sanft. Lichtvoll. Oft mit einem Smiley, einem Herzchen oder einem Satz wie:
„Ich spüre, dass du bereit bist für Heilung auf einer tieferen Ebene.“
Doch was dahintersteckt, ist selten echte Hilfe – sondern eine Kommunikationsstrategie, die gezielt auf Unsicherheit und Leid zielt. Hier sind die häufigsten rhetorischen Muster:
1. Pseudospirituelle Schuldumkehr:
„Du hast dir diese Krankheit ausgesucht. Dein Körper will dir etwas sagen.“
Was auf den ersten Blick wie Achtsamkeit klingt, ist in Wahrheit brutal. Denn wer diese Aussagen ernst nimmt, glaubt irgendwann wirklich, selbst schuld an der eigenen Krankheit zu sein. Die Verantwortung wird verschoben – nicht auf das Gesundheitssystem oder die biologische Realität, sondern auf die „geistige Blockade“ von uns Betroffenen.
Das ist kein Trost. Das ist Gaslighting.
2. Immunisierung gegen Kritik:
„Wenn du wütend reagierst, zeigt das, dass du noch im Widerstand bist.“
So wird jede kritische Rückmeldung elegant abgewiegelt. Wer widerspricht, hat es einfach nicht verstanden – oder ist noch nicht „offen“ genug. Eine Diskussion auf Augenhöhe ist so gar nicht möglich, denn: Der Heiler irrt nie. Zweifel ist Teil deiner Krankheit.
3. Wissenschaft als Feindbild:
„Die Schulmedizin kann dir nicht helfen – nur dein höheres Selbst.“
Die Wissenschaft wird lächerlich gemacht oder als manipulativer Teil des „Systems“ dargestellt. Die Botschaft: Nur wer sich von der „Mainstream-Medizin“ löst, kann wirklich heilen.
Dabei zeigt die Forschung gerade bei ME/CFS, Long Covid und anderen chronischen Erkrankungen zunehmend Fortschritte. Sie braucht nur eins: Geduld – und keine Gurus.
4. Exklusives Heilwissen & Autoritätsinszenierung:
„Ich habe schon so vielen geholfen. Ich weiß, wovon ich spreche.“
Oft fehlt jede medizinische Ausbildung. Stattdessen berufen sich viele auf „eigene Erfahrungen“, Energiearbeit oder „Botschaften“. Durch diese emotionale Nähe entsteht Vertrauen – und im schlimmsten Fall: Abhängigkeit.
Mit einfachen Fragen kann man dann auch noch das Unwissen entlarven. Gerade bei Long Covid und ME/CFS haben viele noch nie von Pacing und PEM gehört. Dabei sind die zwei wichtigsten Begriffe für uns Betroffene!
5. Verpackung in vermeintlich liebevolle Sprache:
„Ich meine das nicht böse – ich will dir helfen.“
Dieser Satz folgt meist auf übergriffige, abwertende Aussagen. Denn wenn man es ja nur „gut meint“, darf man alles sagen. Nur: Hilfe, die nicht gefragt wurde und anderen die Schuld an ihrer Erkrankung zuschreibt, ist keine Hilfe. Sondern Machtmissbrauch im Esoterik-Gewand.

Woran man echte Hilfe erkennt – und woran nicht
Nicht jede spirituelle oder alternative Begleitung ist automatisch schlecht. Viele Menschen finden Kraft in Meditation, Yoga, Naturheilkunde oder spirituellen Praktiken – und das ist völlig legitim. Problematisch wird es dort, wo Heilung versprochen, Verantwortung verschoben und Wissenschaft abgewertet wird.
Hier ein paar klare Unterscheidungsmerkmale:
✅ Echte Hilfe…
- … respektiert deine Selbstbestimmung und überfordert dich nicht mit Schuldzuweisungen.
- … ergänzt die schulmedizinische Behandlung, statt sie zu ersetzen.
- … erkennt an, dass nicht alles durch Gedanken, Glauben oder Ernährung zu heilen ist.
- … hört dir zu, ohne Diagnose zu spielen.
- … macht keine Versprechen, sondern bietet Möglichkeiten.
- … bleibt transparent bei Qualifikation, Kosten und Grenzen.
❌ Fragwürdige Hilfe…
- … erklärt deine Krankheit zur selbstgemachten „Lernaufgabe“.
- … behauptet, dass du nur „offen genug“ sein musst, um zu heilen.
- … entzieht sich jeder Kritik mit spiritueller Immunisierung („Du bist noch nicht soweit“).
- … weckt Hoffnung, wo keine Grundlage besteht – oft mit dem Ziel, Geld zu verdienen.
- … macht dich klein, um sich groß zu machen.
Kurz gesagt:
Spiritualität kann ein wertvoller Teil von Selbstfürsorge sein – aber sie darf nicht die Verantwortung für eine Krankheit umdeuten oder dich daran hindern, echte Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wer dich respektiert, wird dich nie belehren oder unter Druck setzen.
Fazit: Zwischen Räucherstäbchen und Realität – warum Aufklärung kein Widerspruch ist
Ich schreibe diesen Text nicht, weil ich Spiritualität ablehne. Im Gegenteil: Ich bezeichne mich selbst als Hexe, liebe Edelsteine, Tarotkarten, ätherische Öle und die Kraft von Ritualen. Für mich sind sie Quellen der Verbindung, der Reflexion und manchmal auch des Trosts. Aber sie sind kein Ersatz für Diagnostik, keine Therapie, und sie versprechen vor allem keine Wunderheilung.

Ich glaube an Intuition – und an Wissenschaft. Ich finde, man darf sich die Welt bunt denken, aber nicht blind glauben, was einem da als Wahrheit serviert wird.
Besonders dann nicht, wenn es um uns geht, die sowieso schon täglich kämpfen: mit ihren Symptomen, mit der Bürokratie, mit dem Nicht-Gesehenwerden.
Darum ist es mir so wichtig, über diese rhetorischen Tricks aufzuklären. Denn Aufklärung schützt. Vor Schuldgefühlen, vor falschen Heilsversprechen – und davor, sich selbst zu verlieren.
Über die Autorin
Julia Stüber ist zertifizierte Health & Wellness Coach (CPD), Ernährungsberaterin und Autorin. Mit über 15 Jahren Erfahrung schreibt sie über chronische Erkrankungen, Ernährung, Selbstfürsorge und kreative Bewältigungsstrategien. Als selbst Betroffene von ME/CFS und Zöliakie verbindet sie persönliche Erfahrung mit fundiertem Fachwissen.Mehr über Julia erfahren | Newsletter abonnieren