Perfektionismus ist ein Thema, mit dem sich viele Menschen mit chronischen Erkrankungen auseinandersetzen müssen – so auch ich.
Meine ersten Schritte weg vom Perfektionismus machte ich tatsächlich durch die Kunst. Noch vor meiner ME/CFS-Diagnose fing ich mit Mixed Media an – und da ist kein Platz für Perfektionismus! Wenn du verschiedene Materialien wild miteinander kombinierst, Farbe spritzt und Collagen klebst, dann geht es um den Prozess, nicht um das „fehlerfreie“ Ergebnis.

Als es mir immer schlechter ging, fing ich bewusst an, gegen meinen Perfektionismus anzugehen. Ja, meine Bücher sollen fehlerfrei sein. Aber selbst in meiner Magisterarbeit habe ich 20 Jahre später einen Tippfehler gefunden – obwohl ich sie unzählige Male gelesen hatte und mehrere Korrekturleser drüber geschaut hatten!
Mittlerweile kann ich damit leben. Wie es im englischsprachigen Raum so schön heißt: „Better done than perfect.“ Und mittlerweile liebe ich es einfach zu machen – so gut wie möglich, ohne mich unter Druck zu setzen.
🌟 Wenn Perfektion zur Falle wird
Perfektionismus und chronische Erkrankungen sind wie ein toxisches Paar. Da ist einerseits unser Körper, der plötzlich nicht mehr das macht, was wir von ihm gewohnt sind. Und andererseits unser Kopf, der immer noch die alten Standards anlegt und sich fragt: „Warum schaffe ich nicht mehr, was früher selbstverständlich war?“
Hier ein wichtiger Unterschied, den ich für mich entdeckt habe:
Der Unterschied zwischen gesundem Anspruch und lähmender Perfektion
Gesunder Anspruch sagt: „Ich gebe mein Bestes mit den Ressourcen, die ich heute habe.“ Perfektionismus flüstert dagegen: „Wenn es nicht 100%ig ist, ist es wertlos.“ Während gesunder Anspruch uns motiviert und weiterbringt, lähmt uns Perfektionismus oft komplett.
Bei chronischen Erkrankungen wird das besonders deutlich:
- Der gesunde Anspruch passt sich an: „Heute schaffe ich vielleicht nur zwei E-Mails, aber die beantworte ich sorgfältig.“
- Perfektionismus blockiert: „Wenn ich nicht alle 20 E-Mails perfekt abarbeiten kann, fange ich gar nicht erst an.“
Die perfektionistischen Fallen im Alltag
Erkennst du dich in diesen Gedanken wieder? Das sind typische Denkfallen, in die wir tappen können:
- „Wenn ich schon nicht arbeiten kann wie früher, muss wenigstens mein Zuhause perfekt sein.“
- „Mein Blog-Artikel ist noch nicht gut genug – ich veröffentliche ihn lieber gar nicht.“
- „Andere schaffen so viel mehr als ich. Ich bin einfach nicht genug.“
Das Tückische: Perfektionismus versteckt sich oft hinter scheinbar positiven Eigenschaften wie „hohe Standards“ oder „Gewissenhaftigkeit“. Aber er kostet uns Energie, die wir als chronisch Kranke bitter nötig haben.

Der Weg zur Befreiung
Die gute Nachricht: Perfektionismus ist erlernbar – und damit auch wieder verlernbar. Es geht nicht darum, plötzlich nachlässig zu sein, sondern um eine neue Definition von „gut genug“. Eine Definition, die unsere aktuelle Realität miteinbezieht und uns trotzdem stolz auf das sein lässt, was wir schaffen.
☕️ Die kleine Auszeit
Nimm dir 5 Minuten und denke an etwas, was du in letzter Zeit „nicht perfekt“ gemacht hast – aber trotzdem fertig bekommen hast. Vielleicht eine E-Mail, die du schnell abgeschickt hast, ein Essen, das „nur“ okay war, oder ein Gespräch, bei dem du nicht die perfekten Worte gefunden hast.
Frage dich: Was ist dadurch Schlimmes passiert? Meistens ist die Antwort: gar nichts. Manchmal sogar im Gegenteil – die spontane E-Mail kam herzlicher rüber als eine stundenlang überarbeitete.

Schreibe dir dieses „unperfekte aber erledigte“ Beispiel auf einen Zettel. Dieser Zettel ist dann ein Beweis dafür, dass ‚gut genug‘ oft genau richtig ist.
🧰 Praktische Umsetzung
Die 80%-Regel einführen
Frage dich bei jeder Aufgabe: „Wann ist das zu 80% gut?“ Oft reichen diese 80% völlig aus, und die letzten 20% kosten unverhältnismäßig viel Energie.
Den „Gut-genug-Timer“ nutzen
Setze dir für Aufgaben bewusst Zeitlimits. Wenn der Timer klingelt, ist es gut genug – auch wenn dein Perfektionist-Hirn noch 10 weitere Verbesserungen sieht.
Kleine Erfolge sammeln
Führe eine „Erledigt-Liste“ statt einer To-Do-Liste. Schreibe auf, was du geschafft hast – auch die kleinen, „unperfekten“ Dinge. Das zeigt dir, wie produktiv du trotz allem bist.
Deine neue Perfektionismus-Frage
Statt „Ist das perfekt?“ frage: „Erfüllt das seinen Zweck?“ Wenn ja, dann ist es gut genug.
Über die Autorin
Julia Stüber ist zertifizierte Health & Wellness Coach (CPD), Ernährungsberaterin und Autorin. Mit über 15 Jahren Erfahrung schreibt sie über chronische Erkrankungen, Ernährung, Selbstfürsorge und kreative Bewältigungsstrategien. Als selbst Betroffene von ME/CFS und Zöliakie verbindet sie persönliche Erfahrung mit fundiertem Fachwissen.Mehr über Julia erfahren | Newsletter abonnieren