Letzte Woche habe ich mit meinem Teenager den Anime-Film “K Pop Demon Hunter” geschaut – was für ein Trip! Doch ein Satz daraus hallt bis heute in mir nach: „Du bist zuviel, aber nie genug.“
Dieser Satz traf mich wie ein Blitz, denn er beschreibt perfekt einen Glaubenssatz, der mich jahrzehntelang begleitet hat. Seit meiner Jugend hatte ich das Gefühl, gleichzeitig zu viel und zu wenig zu sein. Zu laut, zu emotional, zu fantasievoll, zu sensibel – aber trotzdem nie gut genug, nie produktiv genug, nie erfolgreich genug.
Doch etwas Seltsames ist passiert: Mit der Diagnose ME/CFS und dem Älterwerden (ich bin diese Woche 52 geworden) hat sich diese innere Stimme verändert. Die chronische Krankheit, die mir so viel genommen hat, hat mir gleichzeitig etwas Kostbares geschenkt: Die Befreiung von diesem unmöglichen Spagat.
🌟 Wenn „zuviel“ plötzlich wertvoll wird
Früher dachte ich, meine Sensibilität sei ein Makel. Ich spürte Stimmungen, nahm Energien wahr, brauchte mehr Ruhe als andere – und schämte mich dafür. „Du bist zuviel“, sagte die innere Stimme. Mit ME/CFS habe ich gelernt: Diese Sensibilität ist nicht mein Feind, sondern mein wichtigster Verbündeter.
Sie hilft mir beim Pacing, warnt mich vor Überlastung und zeigt mir genau, was mein Körper braucht. Was früher als „zuviel“ galt, ist heute meine Superkraft. Ich spüre Nuancen, die andere oft gar nicht bemerken. Ich spüre, wenn sich mein Energielevel verändert, noch bevor die Erschöpfung zuschlägt.
Die Wahrheit ist: Wir waren nie zuviel. Die Welt war nur nicht bereit für uns!
🎯 Das Ende von „nie genug“
Noch hartnäckiger war das „nie genug“. Nie produktiv genug, nie erfolgreich genug, nie… genug. ME/CFS hat mir diese Illusion brutal, aber heilsam genommen. An Tagen, an denen ich nur eine E-Mail schreiben kann, musste ich lernen: Das IST genug.

Wenn ich nach 15 Minuten Hausarbeit eine Pause brauche – das ist genug. Wenn ich nur fünf Minuten statt einer Stunde spazieren gehe – das ist genug. Wenn ich heute nur atme und existiere – das ist mehr als genug.
Chronische Krankheit zwingt uns, neu zu definieren, was „genug“ bedeutet. Und dabei entdecken wir etwas Revolutionäres: Unser Wert bemisst sich nicht an unserer Leistung.
💫 Die 52-Jahre-Perspektive
Vielleicht ist es auch das Älterwerden, aber ich merke: Mit jedem Jahr wird mir bewusster, wie kostbar die Energie ist, die ich habe. Früher habe ich sie verschwendet für den Versuch, anderen zu gefallen oder gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen. Heute setze ich sie bewusster ein.
Die Kombination aus chronischer Krankheit und Lebenserfahrung hat mir eine neue Klarheit geschenkt: Ich darf sein, wie ich bin – Punkt.
Zu sensibel? Wunderbar – das macht mich zu einer einfühlsamen Autorin und Bloggerin. Zu langsam? Perfekt – dadurch entdecke ich Details, die andere übersehen. Zu emotional? Großartig – das verleiht meinen Texten Tiefe und Authentizität.
☕️ Die kleine Auszeit
Nimm dir 5 Minuten und frage dich: Wo in deinem Leben bist du „zuviel“? Und wo „nie genug“? Schreibe es auf – ganz ohne Bewertung. Manchmal ist schon das Erkennen der erste Schritt zur Befreiung.
💝 Praktische Umsetzung
- Werde dir deiner „zuviel“-Eigenschaften bewusst und feiere sie als Stärken
- Redefiniere „genug“ basierend auf deinen aktuellen Möglichkeiten, nicht auf den Erwartungen anderer
- Entwickle Selbstmitgefühl für die Tage, an denen wenig möglich ist
- Umgib dich mit Menschen, die dich wertschätzen, wie du bist

Die Ironie des Lebens: Manchmal braucht es eine Krankheit, um uns gesund zu machen – gesund in unserem Selbstbild, gesund in unserer Selbstakzeptanz, gesund in unserem Umgang mit uns selbst.
Du bist nicht zuviel. Du bist nicht zu wenig. Du bist genau richtig.
Über die Autorin
Julia Stüber ist zertifizierte Health & Wellness Coach (CPD), Ernährungsberaterin und Autorin. Mit über 15 Jahren Erfahrung schreibt sie über chronische Erkrankungen, Ernährung, Selbstfürsorge und kreative Bewältigungsstrategien. Als selbst Betroffene von ME/CFS und Zöliakie verbindet sie persönliche Erfahrung mit fundiertem Fachwissen.Mehr über Julia erfahren | Newsletter abonnieren